* Der vollständige Text ist in der Buchpublikation Ankersentrum (surviving in the ruinous ruin) in englischer Sprache zu lesen.

Die Rückkehr der Wölfe ist nicht ohne Vorgeschichte. Ihr Verhältnis zum Wolf, das von Bewunderung und Konkurrenz gekennzeichnet ist, haben Menschen in unterschiedliche Mythen, Figuren und Erzählungen gefasst. Von Furcht und Faszination durchdrungen ist der Werwolfmythos: die Verwandlung eines Menschen in einen blutrünstigen Wolf(smenschen). Diese Vorstellung treibt das Europa des 13. bis 17. Jahrhunderts so stark um, dass im Zuge der Hexenverfolgung auch vermeintliche ›Werwölfe‹ auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden. Die Geschichte der Vertreibung der Wölfe verläuft parallel zur Herausbildung von souveränen Staaten und der Idee der Staatsbürgerschaft und lässt sich anhand einer Reihe von Trennungen und Unterscheidungen, etwa zwischen Wildnis und Domestizierung, Mensch und Natur, Sesshaftigkeit und Freizügigkeit oder Besitz und Besitzlosigkeit, erzählen.

Die Bezüge zwischen der Figur des Wolfs und der des Friedlosen, des Verbannten, der zu keiner Gemeinschaft gehört, führt Giorgio Agamben in Homo sacer aus: Die »Grenzverfassung des Verbannten«[1] wird in dessen Gleichsetzung mit dem Wolfsmenschen oder Werwolf, halb Tier, halb Mensch, deutlich. Er steht – wie der homo sacer, der nach römischen Recht nicht geopfert, aber straflos getötet werden darf – an der Schwelle zwischen Natur und Kultur, ist in beiden Welten zugleich, jedoch keiner von beiden zugehörig. Diese Grenzposition zwischen phýsis (d. h. der Natur oder dem Realen) und nómos (d. h. dem menschlichen und göttlichen Gesetz) und die diesen beiden Welten innewohnende Gewalt kennzeichnen Agamben zufolge nicht etwa nur den Zustand vor dem Gesetz, der den staatsbürgerlichen Rechten und dem Gesellschaftsvertrag vorangeht. Vielmehr ist die Gewalt, die über das ›nackte Leben‹ des Verbannten, des homo sacer, jenseits jeder Strafbarkeit verfügt, eine dauerhafte Voraussetzung »des authentisch Politischen«[2] und sie bleibt ein konstituierendes Element des souveränen Staates.

Diese wesentliche Verbindung zwischen Gewalt und Staat manifestiert sich im Ausnahmezustand am deutlichsten: Im Augenblick der Bedrohung, etwa im zwischenstaatlichen Konflikt oder Bürgerkrieg, auf den sich Thomas Hobbes’ anthropologische Formel »homo homini lupus est« (Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf) historisch bezieht, demaskiert sich die souveräne Macht als grundsätzlich gewaltförmig. Die extremste Ausweitung dieser Macht, die in Gewalt gründet, vollzieht sich auf dem exterritorialen Raum des Lagers.

Das Paradox von gleichzeitiger Ausschließung und Einschließung, das Gemeinschaften und Staaten eigen ist, erkannte schon Roland Barthes darin, »dass der Ausgeschlossene in ihnen eingeschlossen ist, ohne seinen Status als Ausgeschlossener zu verlieren.« Mehr noch er wird in ihnen »als Desintegrierter integriert.«[3] Das heißt, der ›Augenblick‹ des Ausnahmezustands wird potenziell ausgedehnt, im System verstetigt. Der integrierte Ausschluss ist die immer wieder aktivierbare Legitimation der Gewaltausübung.

In seinem Aufsatz Grammaire africaine[4] untersucht Barthes die Rhetorik der französischen Kolonialherren in Algerien und Marokko und spricht von einem ›axiomatischen Sprachgebrauch‹, der der einheimischen Bevölkerung Eigenschaften zuschreibt, die lokalen Gesellschaftsstrukturen abwertet und die kolonialen Machtverhältnisse naturalisiert. Der die Bedeutung von Wörtern in ihr Gegenteil kehrt, um Fremdherrschaft zu legitimieren. Diese Kombination aus Zuschreibung, Fremdbestimmung und Maskierung findet man auch in heutigen politischen Rhetoriken wieder. Wenn etwa bewaffneter Kampf in Befriedung von Unruhen verwandelt, Gewaltopfer zu Verdächtigen erklärt, Erstaufnahmelager, die Gemeinschaft nahezu verunmöglichen, als Gemeinschaftsunterkünfte bezeichnet oder Migrant*innen und Helfer*innen, die sich mit ihnen solidarisieren, kriminalisiert werden. Im Namen der ›Willkommenskultur‹ werden Migrant*innen ›Gäste‹ genannt, um ihnen dann vorzuschreiben, wo, wann und wie Gäste zu sein haben. Sie werden lediglich nach ihren Namen gefragt, um registriert, identifiziert und zugeordnet zu werden. Diese Rhetorik erfindet trügerische Ausdrücke wie etwa ›Duldung‹ oder ›Ankerzentrum‹ deren Effekte Migrant*innen zu spüren bekommen, bevor sie sie verstehen, um dann zu lernen, dass sie weder Gäste noch willkommen sind.

Prozesse der Migration umfassen heute weltweit mehr als 250 Millionen Menschen. Migrantische Bewegung, sagt Avery F. Gordon, bringe die objektiven Effekte zum Vorschein, die Grenzkontrollen für die Person bedeuten, die sich niemals alleine bewegt.[5] »Die Person, die sich niemals alleine bewegt«, lebt seit Jahrzehnten auf dem ›provisorischen‹ Exterritorium von Flüchtlingslagern, sitzt mit hunderten anderen auf offenem Meer in einem überfüllten Schlauchboot, wohnt in einer ›Erstaufnahmeeinrichtung‹ auf engstem Raum mit anderen, existiert ohne Bürgerrechte (als Dunkelziffer), arbeitet auf Feldern und in Fabriken ohne Recht am eigenen, zum Werkzeug degradierten Körper und unter schlechtesten Bedingungen. Als Desintegrierte ist sie in die Verwertungslogik von neoliberalen Ökonomien und nationalen Politiken integriert.

Ist es diese Person, mit der das frei reisende ›universelle Subjekt‹ so wenig teilt – so wenig zu teilen glaubt und zu teilen bereit ist –, die uns die Bedeutung von Sozialität vor Augen führt? Die in der jahrhundertelangen Geschichte ihrer Unterwerfung verinnerlicht hat, dass die Ausbeutung natürlicher Ressourcen und die Zerstörung sozialer Strukturen zugunsten der größtmöglichen Kapitalanhäufung ruinöse Konzepte darstellen und eine Krise produzieren, die keine Trennung (mehr) zulässt – etwa zwischen Mensch und Mensch, Mensch und Natur, belebtem und unbelebtem Dasein – und die kein Außen und kein Zurück kennt?

Das Wissen um die ruinösen Folgen, die das ›universelle Subjekt‹ der Moderne und mit ihm das globalisierte Kapital durch die Plünderung von natürlichen, sozialen und ideellen Ressourcen verursachen, ist weder ein Geheimnis noch neu. Und solange dieses Wissen nicht aktiviert wird, macht es seine Träger, die sich diesen Zusammenhängen gegenüber passiv verhalten, diese perpetuieren oder widerspruchlos erdulden, zu Komplizen der Plünderung.

Wie aber ist Aktivierung möglich? Wäre sie durch die Figur des Zeugen denkbar, der engagierte Wahrnehmung und Präsenz im Sinne von ›being-with‹ (Jean-Luc Nancy) verkörpert? Für André Lepecki liegt die ästhetische und politische Qualität von Zeugenschaft im »aktiven Verhältnis zur künftigen Historizität des Ereignisses« begründet.[6] Fast noch dringlicher erscheint es, die Kontinuität und Komplexität des ›Ereignisses‹, der Plünderung (be)greifbar zu machen. Etwa durch das Konzept des ›elsewhere within here‹ (Trinh T. Minh-ha), das weder rein zeitlich noch rein räumlich gemeint ist, das die ökologischen, sozialen, kulturellen, ökonomischen und politischen Zusammenhänge der Plünderung immer wieder erkennt und die aktive Herausforderung dieser Zusammenhänge einfordert.

Und schließlich: Wäre eine radikale Form von Gastfreundschaft denkbar, die die Rolle des ›ewigen Gastgebers‹ gar nicht vorsieht (der aus einem wohlmeinenden Humanismus heraus alle einlädt und für alle spricht, um dann seinen Gästen zu sagen, wo sie zu sitzen und wie sie sich zu benehmen haben)? Diese Gastfreundschaft stünde für eine unmittelbare Verbundenheit, in der es – mit den Worten Roland Barthes’ – »nur Anreden, Anwesenheiten, und keine Bilder, Abwesenheiten« gibt.[7] Sie wäre eine Einladung, tradierte und verinnerlichte ästhetische Konzepte des gar nicht so ›universellen‹ Subjekts gegen Erfahrungen des ›being in common‹ (Jean-Luc Nancy) und des ›becoming with‹ (Donna Haraway) einzutauschen, um das Sehen, Hören, Sprechen immer wieder neu zu fassen. Die Zusammenkunft, in der alle zugleich Gäste und Gastgeber sind, wäre ein unbändig freudvolles Ereignis, ein – gemeinsam schweigender, zuhörender, rufender, tanzender, heulender – Ausdruck von gegenseitiger Verantwortung. Mit bell hooks gesprochen, wäre Ästhetik dann »mehr als eine Philosophie oder Theorie der Kunst und Schönheit; es wäre eine Art, die Welt oder einen bestimmten Ort zu bewohnen, eine Art des Sehens und des Werdens.«[8]
Diese Art von Ästhetik besitzt die soziopoetische Kraft der Veränderung.

1  Giorgio Agamben, Homo Sacer. Die Souveränität von Macht und das Nackte Leben, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002, Seite 114
2  Ebd., Seite 116
3  Roland Barthes, Vorlesung am Collège de France, 16. März 1977, in: ders., Wie zusammen leben. Simulationen einiger alltäglicher Räume im Roman, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2007, Seite 143
4  Roland Barthes, Grammaire africaine, in: Mythologies, Paris: Éditions du Seuil, 1957
5  Vgl. Avery F. Gordons Vortrag ›Migration – Talking Migration‹ im Rahmen von 100 Jahre Gegenwart am 24. März 2017 im Haus der Kulturen der Welt, Berlin (https://www.hkw.de/en/app/mediathek/video/55799)
6  André Lepecki, Singularities: Dance in the Age of Performance. New York/London: Routledge, 2016, Seite 180
7  Roland Barthes, Vorlesung am Collège de France, 30. März 1977, in: Wie zusammen leben, Seite 171
8  bell hooks, Belonging: A Culture of Place, New York/London: Routledge, 2009, Seite 122