Die Verschärfung des neoliberalen Kapitalismus in der globalisierten Weltwirtschaftsordnung hat existenzielle und bedrohliche Auswirkungen: Klimawechsel, Artensterben, Kriege, die biologische und ökonomische Zerstörung von Lebensgrundlagen. Die weltweit zunehmende Mobilisierung von Menschen und anderen Lebewesen ist eine direkte Reaktion auf diese Entwicklung. Die Europäische Union bildet zur Unterdrückung dieser Bewegungen innerhalb und außerhalb ihrer Grenzen repressive Strukturen aus, die Migration kriminalisieren und eine ›Kultur der Deportation‹ verfestigen.

Die Einrichtung neuer Transitlager und sogenannter AnkERzentren in Süddeutschland sind nur ein Teil dieser Entwicklung, während die EU gegenwärtig ihre Grenzregime immer weiter mobilisiert, Lagersysteme auch außerhalb des europäischen Raums etabliert und den Grenzschutz bis in die Sahara vorverlagert, um der im Verständnis der EU ›irregulären Migration‹ frühzeitig Einhalt zu gebieten.
Die Migrationswege und die Biografien der Menschen, die zurzeit in süddeutschen Übergangs- oder Abschiebeeinrichtungen ausharren, machen die fortbestehende Kolonialität des Grenzregimes offenkundig. Die Institution des Lagers als Technik der Ausgrenzung und gleichzeitigen Einsperrung bestimmter Menschengruppen bildet eine strukturell wichtige Komponente mobiler Grenzregime. Diese Strukturen knüpfen an historische Phänomene und Entwicklungen an.

Einen Überblick über die historischen Narrative, die Kontinuitäten, Zusammenhänge und die Entwicklung der Asylgesetzgebung gibt das folgende ›unvollständige Glossar‹ (Stand: Januar 2019) zu mobilen Grenzregimen der Akkumulation.
Zusammengestellt von Felix Meyer, Seda Naiumad und Fritz Lazlo Weber, in englischer Sprache publiziert in ›Ankersentrum (Surviving in the ruinous ruin)‹, hg. von Natascha Süder Happelmann und Franciska Zólyom, Berlin, Archive Books, 2019

HERE AND THERE

Der Kolonialismus mit seinen Grenzziehungen und Ausbeutungsregimen wurde auf einem bildhaften Narrativ von ›Hier‹ und ›Dort‹ gebaut. Das Narrativ speiste sich aus der Gegenüberstellung Mensch/Natur, in der sich der Mensch die Natur untertan macht. Das kolonialistische Bild zeichnete Europa hierarchisch als das Hier – das überlegene, aufgeklärte, Fortschritt bringende Zentrum der Zivilisation – und Afrika, Amerika, Australien und Teile Asiens als ein Dort – eine primitive, unzivilisierte, brachliegende ›Natur‹, die von ihren Schätzen keine Vorstellung hatte und keinen Gebrauch machte.
Das Bild von Hier und Dort diente der strategischen Wertung und begründete die Eroberung und Beherrschung von Lebensformen und Lebensräumen. Das Dort wurde als Ressource für den wachsenden Bedarf Europas und für die Expansion des Kapitals verfügbar gemacht. Auf Karten wurde mit dem Lineal das Land unterteilt und in Form von Kolonien vergeben. Die neu erschlossenen Rohstoffe, Waren und Arbeitskräfte sicherten den Bedarf der wachsenden Industrien Europas. Die daraus gewonnenen Profite waren wiederum nötig zur Finanzierung der kolonialen Kriegsführung. Die Expansion des Kapitals, die in Europa selbst trotz massiver gewaltsamer Umverteilungen durch Einfriedung, Vertreibung, Hexenverfolgung und trotz der Trennung von Produktion in Reproduktion an ihre Grenzen gestoßen war, wurde durch die Kolonien gesichert.
Durch die rassistische Unterscheidung zwischen ›primitiven Eingeborenen‹ und ›zivilisierter‹, weißer Bürgerschaft wurde die Ausbeutung und Vernichtung indigener Bevölkerungen legitimiert. Insbesondere den schwarzen Bevölkerungen Afrikas und ihren Nachkommen in Amerika wurde der Status der humanistisch und zivilisatorisch gefassten Kategorie ›Mensch‹ abgesprochen. Arbeitskraft für die Expansionsprojekte des Kapitals wurde durch militärisch organisierte Deportation in die Sklaverei gesichert. Kolonialismus und Sklaverei sind demnach nicht Kehrseite, sondern Bedingung moderner, europäischer Kulturen.
Ausgelöst durch verschiedene Faktoren – darunter erstarkte emanzipatorische Bewegungen und die Krise des Fordismus, Entkolonialisierung und Non-Aligned Movement der Blockfreien Staaten, Staatsverschuldungen durch Kriege, Erhöhung der Rohölpreise – ging in den 1970er-Jahren eine Phase expandierender Industrieproduktion der ehemaligen Kolonialmächte zu Ende, und das Hier und Dort wurde neu verhandelt. Damit einhergehend wurde auch innerhalb Europas wieder eine deutliche Prekariserung und Entwertung spürbar. Dieser Krise der Akkumulation begegnete das Kapital unter anderem, indem es Industriestandorte in sogenannte Billiglohnländer verlegte, die Arbeitsmärkte flexibilisierte, Arbeitsprozesse einschließlich der Handels- und Logistikketten automatisierte und schließlich finanzialisierte.

ON THE MOVE

Die zunehmende Mobilisierung von Menschen und anderen Lebensformen weltweit ist eine direkte Reaktion auf die zerstörerische Gewalt des Kapitals und die existenziellen Auswirkungen dieser Gewalt auf alle Lebenswelten. Anthropogener Klimawechsel, Verlust von Biodiversität, Austerität und Kriege sind Auswirkungen der Zerstörung von Lebensraum. Der damit einhergehende ökonomische Druck betrifft besonders Menschen aus den (ehemals) kolonialisierten Gebieten. Laut einer Erhebung der UNO betrifft die menschliche Migration seit 2015 250 Millionen Individuen weltweit, innerstaatliche Migration nicht eingerechnet.
Als Reaktion formieren sich wandelbare, mobile Grenzregime, die die europäische oder andere Hegemonien und die Verteilungsverhältnisse, die innerhalb der kolonialen Prozesse entstandenen sind, schützen sollen.
Diese Grenzregime wachsen rapide, militarisieren und technisieren sich zunehmend und reagieren auf die verschiedenen Bewegungen, Praktiken und Forderungen der Migration mit immer neuen Verschärfungen und der Etablierung neuer Grenzformen. Diese Formen lassen sich lose ordnen in räumliche Grenzziehungen, zeitliche Fristen und legale Konstruktionen. Alle Formen werden zunehmend militärisch gestützt und können die bestehenden internationalen Konventionen für grundsätzliche Menschenrechte, Seenotrettung und sogar bestehende Gesetze außer Kraft setzen. Damit aktualisieren die mobilen Grenzregime eine koloniale Praxis, die legale und extra-legale Mittel schafft und über ihr eigenes staatliches Territorium hinaus ausweitet, um ihre hegemonialen und neokolonialen Interessen zu verteidigen. Unter dem Motto ›Kein Mensch ist illegal‹, ›No Border‹ und ›Sans Papier‹ bildeten sich verschiedene solidarische Netzwerke, die sich der Illegalisierung von Migration entgegenstellen. Sie formulieren Forderungen nach dem Recht auf Personenfreizügigkeit und Mobilität als Menschenrecht und weisen auf die rassistische Ausrichtung der Illegalisierung hin.
Die Migrationsbewegung nimmt trotz scheinbar unüberwindbarer Migrationskontrollen weiter zu. In Europa werden viele Menschen erst während des ›Sommers der Migration‹ im Jahr 2015 auf die Zunahme aufmerksam.

ALMANYA

Der Nationalstaat gründet sich auf die Unterscheidung zwischen Menschengruppen. Die grundlegende Unterscheidung ist die zwischen jenen, die das Gesetz als Staatsangehörige anerkennt, und jenen, die als Ausländer*innen gelten und von den privilegierenden Rechten der Staatsangehörigkeit ausgeschlossen sind. Ausländer*innen werden danach klassifiziert, welches wirtschaftliche Interesse ihre Einwanderung für die nationale Ökonomie darstellt.
Die Migrationspolitik in Deutschland lässt sich entlang dieser Fragestellung und der sich wandelnden Antworten erzählen. Die Geschichte der Migration in Almanya wiederum lässt sich entlang der Widerstände gegen die Bedingungen dieser Klassifizierung nachvollziehen.
Ab den 1950er-Jahren wurden von der Bundesrepublik Deutschland circa 14 Millionen Arbeiter*innen durch zwischenstaatliche Anwerbeabkommen im Ausland, vor allem in Italien, Spanien, Griechenland, Türkei, Marokko, Südkorea, Portugal, Tunesien, Jugoslawien, angeworben. Sie wurden in einer Phase der industriellen Expansion gebraucht, damit der Bedarf an Arbeitskräften in den Fabriken gedeckt werden konnte. Zu Beginn wurden viele Arbeiter*innen in sogenannten Gastarbeiter-Lagern untergebracht, Baracken, die in vielen Fällen während des Zweiten Weltkriegs als NS-Zwangsarbeiterlager gedient hatten.
Die Arbeitsmigrant*innen, die ab 1955 das deutsche Wirtschaftswunder mitproduzierten, wurden jedoch nicht als Teil der deutschen Gesellschaft betrachtet, sondern als ›Gäste‹. Mit dem Einsetzen der Rezession im Jahr der Ölkrise 1973 wurde ein genereller Anwerbestopp verfügt, und die ›Gäste‹ bekamen zu spüren, dass sie nicht mehr gebraucht wurden und Deutschland verlassen sollten. Ihre Ausgrenzung wurde durch Zuzugssperren für Städte mit hohem Ausländeranteil und durch politische Kampagnen betrieben, die sich vor allem gegen aus der Türkei Eingewanderte richteten. Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) deklarierte 1982: ›Mir kommt kein Türke mehr über die Grenze.‹ Und der ihm nachfolgende Kanzler Helmut Kohl wollte die Anzahl der aus der Türkei stammenden Menschen in der BRD halbieren, da sie – im Gegensatz beispielsweise zu den Italiener*innen und Portugies*innen – aufgrund ihrer nicht-europäischen Kultur „nicht integrationsfähig und auch im Übrigen nicht integrationswillig“ seien. Per Gesetz sollte die ›Rückkehrbereitschaft‹ mittels einer Prämienzahlung gefördert werden, um den deutschen Staatshaushalt von Sozialleistungen für arbeitslose Ausländer*innen zu entlasten.
Der offiziellen ausländerfeindlichen Politik folgten bald die ersten rassistisch motivierten Brandanschläge (Hamburg 1980, Duisburg 1984, Mölln 1992, Solingen 1993) und Pogrome (Hoyerswerda 1991, Rostock-Lichtenhagen 1992) und die Radikalisierung neonazistischer Gruppierungen.
Doch die Migrant*innen waren längst angekommen. Sie hatten als Gastarbeiter*innen gelernt, sich zu organisieren und für ihre Rechte zu kämpfen. Sie blieben, machten sich ohne die Arbeit in den Fabriken schließlich erfolgreich selbstständig, eröffneten Geschäfte und Restaurants und prägten damit das gemeinsame Leben in den Städten: der Beginn der postmigrantischen Gesellschaft in Almanya.

ASYL

Nach dem Anwerbestopp für Gastarbeiter*innen 1973 blieb als eine der wenigen legalen Möglichkeiten des Aufenthalts in Almanya und der EU für einen Großteil der Menschen mit nichteuropäischer Staatsangehörigkeit nur der Antrag auf Asyl, Flüchtlingsschutz oder subsidiären Schutz.
Das Grundgesetz der Bundesrepublik gewährt in Artikel 16 allen politisch Verfolgten das Recht auf Asyl. Das Recht auf Asyl im Grundgesetz zu verankern, ist direkte Konsequenz aus den Erfahrungen des NS-Regimes und des Zweiten Weltkriegs. Die Bundesrepublik übernahm damit viele der Empfehlungen aus der Deklaration der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 und orientierte sich ab 1954 auch an der völkerrechtlich bindenden Genfer Flüchtlingskonvention. Vor dem Anwerbestopp 1973 stammten die meisten Asylsuchenden aus den sogenannten Ostblockländern und wurden im Sinne der Ideologie des Kalten Krieges aus ›humanitären Gründen‹ toleriert. Nach 1973 veränderte sich die Demografie, und die Zahl der Antragsteller*innen, meist aus den Ländern des Trikont stammend, erreichte ihren vorläufigen Höhepunkt im Jahr 1992. Auf die steigende Zahl von Anträgen auf Asyl wurde mit unterschiedlichen Strategien geantwortet. Die deutsche Politik richtete sich nun grundsätzlich auf die Abwehr von Migrant*innen aus.
Die Problematisierung von Asyl wurde und wird hauptsächlich durch das Narrativ des Asylmissbrauchs bzw. Asylbetrugs legitimiert. Zudem wurde der eskalierende, aggressive Ton in der Debatte um das Asylrecht aus dem gesamten politischen Spektrum (Das Boot ist voll) von einer wachsenden nationalistischen Stimmung durch den Zusammenschluss von BRD und DDR im Jahr 1990 befeuert (Wir sind ein Volk). Die Welle ausländerfeindlicher Gewalt in den frühen 1990er-Jahren wurde als Überforderung der deutschen Bevölkerung gedeutet (Helmut Kohl: Staatsnotstand), welcher durch eine Verschärfung des Asylrechts begegnet werden müsse.
Das Asylgrundrecht aus Artikel 16 wurde 1993 in mehreren Absätzen und mithilfe des sogenannten Asylverfahrensgesetzes neu geregelt und maßgeblich eingeschränkt. Die im Folgenden stigmatisierten und kriminalisierten Antragsteller*innen wurden für die gegen sie gerichtete staatliche Repression und die rassistisch motivierten Anfeindungen und Übergriffe der deutschen Bevölkerung selbst verantwortlich gemacht. Sie wurden als Belastung und Gefahr für das Funktionieren des Asylsystems im Speziellen und den Staat im Allgemeinen betrachtet. Weitere Gesetzesänderungen zur Einschränkung des Asylrechts folgten, die Anerkennungsquote fiel auf unter zwei Prozent. Inzwischen ist es Asylsuchenden legal nicht mehr möglich, Almanya auf dem Landweg zu erreichen, da die Asylberechtigung bei Einreise aus einem Sicheren Drittstaat verweigert wird, falls sie dort per Fingerabdruck registriert wurden. Als Sichere Drittstaaten gelten alle EU-Mitgliedsstaaten, Norwegen und die Schweiz. Diese Pufferzone benachbarter Staaten verschiebt die Grenzen Almanyas an die EU-Außengrenzen.

Sicherer Herkunftsstaat
Mithilfe eines neu eingeführten Rechtbegriffs, des sicheren Herkunftsstaates, werden seit der maßgeblichen Einschränkung des Grundrechts auf Asyl (1993) Asylsuchende nach Herkunft klassifiziert. Anträge aus diesen gesetzlich festgelegten sicheren Herkunftsstaaten werden als ›offensichtlich unbegründet‹ abgelehnt. Die Ablehnung stützt sich auf die im Gesetz verankerte Annahme, dass in sicheren Herkunftsstaaten keine politische Verfolgung drohe. Diese Annahme muss dann im Einzelfall widerlegt werden.
Die Sortierung nach Herkunft soll laut Gesetzgeber das Asylverfahren beschleunigen, das heißt den Betroffenen werden restriktive gesetzliche Auflagen gemacht, um sie möglichst schnell wieder abschieben zu können: verkürzte Klagefristen, Arbeitsverbote, minimale materielle und medizinische Versorgung und – seit dem Asylpaket I von 2015 – der Zwang, bis zum Ende des Verfahrens bzw. bis zur Abschiebung im Lager zu leben. Diese grundlegenden Einschnitte in die Autonomie der Asylsuchenden sollen sogenannte Fehlanreize, etwa humane Lebensbedingungen, vermeiden.

Gute Bleibeperspektive – schlechte Bleibeperspektive
Seit 2015 wird vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) eine sogenannte gute bzw. schlechte Bleibeperspektive statistisch konstruiert. Nur Asylbewerber*innen aus Staaten mit einer durchschnittlichen Anerkennungsquote von über 50 Prozent haben eine gute Bleibeperspektive (2017 waren das Eritrea, Irak, Iran, Syrien und Somalia). Nur Menschen mit ›guter Bleibeperspektive‹ dürfen an Integrationskursen und Förderprogrammen teilnehmen, damit sie anschließend besser in den Arbeitsmarkt integriert werden können. Menschen aus allen anderen Staaten, mit einer Anerkennungsquote unter 50 Prozent, also einer schlechten Bleibeperspektive, sollen so schnell wie möglich abgeschoben werden.

Abschiebung
Als ein zentrales Mittel der Abwehr von Migration dienen Abschiebungen. Die Abschiebung, beschönigend auch ›Rückführung‹ genannt, ist eine Zwangsmaßnahme, bei der Asylsuchende in das Herkunftsland oder ein Drittland deportiert werden. Unter der Dublin-Verordung wird meist in das EU-Land der Erstregistrierung, oft Italien oder Spanien, abgeschoben.
Eine Intensivierung deutscher Abschiebepraxis wurde mit den Asylpaketen I und II (2015/2016) vorangetrieben: Abschiebungen dürfen nicht mehr angekündigt werden, Klagefristen werden weiter verkürzt, die Liste der ›sicheren Herkunftsstaaten‹ wird stetig ausgedehnt, und Asylsuchende aus diesen Staaten werden bis zum Ende ihres Verfahrens in Abschiebelagern (siehe auch AnkER-Zentren) konzentriert, isoliert und überwacht.
Sogenannte Abschiebehindernisse bestehen unter anderem im Fall von Krankheit oder Schwangerschaft, oder wenn sich der Zielstaat weigert, eine Person aufzunehmen. Auch fehlende Identitätsdokumente sind laut einer Evaluation der Bund-Länder-AG Rückführung ein effektives Hindernis bei Abschiebungen. Viele Abschiebungen scheitern aufgrund von Protesten oder weil eine Person schlicht nicht auffindbar ist.
Als Protestform und wirksames Mittel zur Vereitelung der meist nächtlichen Abschiebungen nutzten Bewohner*innen von Abschiebelagern 2017 unter anderem Trillerpfeifen. Der Lärm führte in vielen Fällen zum Abbruch der Abschiebung. Bei der Verhinderung von Abschiebungen, die in Wohnungen, am Arbeitsplatz oder in der Schule durchgeführt werden sollten, gab es wiederholt Unterstützung durch zivilen Ungehorsam von solidarischen Menschen. Bei Abschiebeflügen weigerten sich Piloten zu starten und verhinderten damit im Jahr 2017 in knapp 300 Fällen die Durchführung von Abschiebungen.
Die Bundesrepublik und die Europäische Union verfolgen die Absicht, mit mehreren, zumeist afrikanischen Staaten sogenannte Rückführungsabkommen abzuschließen. Diese Abkommen sollen für die abschiebenden Staaten eine Reihe von Verpflichtungen aushebeln – etwa das Einholen von Staatsbürgerschaftsnachweisen – und für die aufnehmenden Staaten die Möglichkeiten des Einspruchs beschränken. Die Assoziation der Abgeschobenen in Mali und Togo, die sich gegen die Einführung dieser Abkommen einsetzen, sprechen sich grundsätzlich gegen erzwungene Rückführungen aus. Ihr zivilgesellschaftlicher Protest verhinderte bisher ein Abkommen mit Mali.

Duldung
Abgelehnte Asylbewerber*innen, die aufgrund von sogenannten Abschiebehindernissen nicht sofort abgeschoben werden können, erhalten eine ›Bescheinigung der vorübergehenden Aussetzung der Abschiebung‹, eine Duldung. Ende 2017 sind von dieser Regelung 166.740 Personen in Almanya betroffen. Sobald der Hinderungsgrund entfällt, werden sie abgeschoben. Duldungen werden in der Regel nur für sehr kurze Zeiträume von höchstens sechs Monaten erteilt, sodass immer wieder Verlängerungen beantragt werden müssen – in manchen Fällen im Abstand weniger Tage, denn nur mit einer Duldung bleibt der Aufenthalt in Almanya straffrei. Die Duldung ist ein Nicht-Status zwischen rechtmäßigem und unrechtmäßigem Aufenthalt in Almanya.
Für viele Betroffene bedeutet das Jahre, manchmal Jahrzehnte in einer rechtlich prekären Situation ohne gesicherten Status und ohne Aussicht auf dessen Verbesserung – man nennt das Kettenduldungen. Sie unterliegen dabei verschärften Restriktionen, vor allem wenn sie aus sicheren Herkunftsstaaten stammen.
Für diese Personengruppe gilt ein generelles Arbeitsverbot. Im Ausnahmefall und nach Ermessen kann die Ausländerbehörde nach drei Monaten eine Arbeitserlaubnis erteilen, sofern Geduldete nicht aus einem sicherem Herkunftsstaat kommen und sie ihre Mitwirkungspflicht nicht verletzt haben. Darüber hinaus muss die Agentur für Arbeit prüfen, ob eine bestimmte Arbeitsstelle nicht vorrangig einer Person mit Status (deutscher Pass oder der eines EU-Mitgliedsstaates) zusteht. Oft dauert die Prüfung für Arbeitgeber*innen zu lange, und der Job wird anderweitig vergeben.

Mitwirkungspflicht
Der Statuts des ohnehin weitgehend entrechteten ›Geduldeten‹ wird durch das juristische Mittel der Mitwirkungspflicht noch verschlechtert. Durch diese Auflage werden Geduldete verpflichtet, an ihrer eigenen Abschiebung mitzuwirken. Sie müssen bei den zuständigen Ausländerbehörden zum Beispiel bei der Identitätsfeststellung durch erkennungsdienstliche Maßnahmen oder bei der Beschaffung von Pass und Papieren mitwirken. Wer die Pflicht verletzt, wird durch Sanktionen wie die Streichung finanzieller Hilfen oder Arbeitsverbot bestraft.

Residenzplicht
Die Bewegungsfreiheit für Asylsuchende in Almanya wird durch die sogenannte Residenzpflicht immer wieder außer Kraft gesetzt. Bei geltender Residenzpflicht dürfen Asylsuchende ohne Billigung durch die Behörden nicht den ihnen zugewiesenen Landkreis verlassen. Verstoßen sie gegen diese Regelung, werden sie mit Bußgeldern oder Haft bestraft. Diese Form der Verletzung des Menschenrechts auf Bewegungsfreiheit ist in Europa einmalig.
In einer Reihe selbstorganisierter Proteste, die unter dem Titel ›Refugee Strike Movement‹ zusammengefasst waren, haben Asylsuchende aus ganz Almanya und darüber hinaus ab dem Frühjahr 2012 das Ende der Residenzpflicht, der Lagerunterbringung und Abschiebungen eingefordert. Zu Beginn der Proteste fand ein gemeinsamer Marsch aus Würzburg nach Berlin statt, der ganz bewusst gegen die Residenzpflicht der Teilnehmenden verstieß und der es ihnen erst ermöglichte, andere Lager und Unterkünfte zu besuchen, um die dortigen Bewohner*innen für die Proteste zu mobilisieren.
Als direkte Konsequenz wurde die Residenzpflicht kurzzeitig bundesweit abgeschafft, um dann durch unterschiedliche Regelungen, unter anderem durch das Asylpaket I, im Herbst 2015 wieder eingeführt zu werden.

Dublin
Die Dublin-Regelungen sind eine seit 1997 gültige und mehrfach verschärfte Reihe von europäischen Verordnungen, die Migrant*innen verpflichtet, ihren Antrag auf Asyl im EU-Staat ihrer Erstregistrierung zu stellen. Wer danach in einen anderen EU-Staat weiterzieht, wird zwangsweise wieder an den vorherigen Ort abgeschoben und kann dafür gemäß der Dublin-Verordnung in Abschiebehaft genommen werden.
Gleichzeitig wird auf diese Weise Druck auf die Staaten am Rand der EU ausgeübt, die Migrationsrouten an den Außengrenzen mit allen Mitteln zu schließen. Während durch die Liberalisierung des EU-Binnenmarktes die Grenzkontrollen innerhalb der EU durch das Schengen-Abkommen von 1985 abgeschafft wurden, entstanden so neue, einheitliche Grenzregime an den zuvor noch passierbaren Außengrenzen. Und der Druck auf die Mitgliedstaaten an den Außengrenzen wird dort gewaltvoll an die Migrant*innen weitergegeben in Form von illegalen und häufig brutalen Zurückführungen an den Grenzen, sogenannten Push-Backs.
Die Mobilität von Migrant*innen wird durch dieseVerordnung auf eine Zone am südlichen und südöstlichen Rand der EU beschränkt. Im Süden Italiens geraten dadurch viele der rechtelosen Migrant*innen in sklavenähnliche Arbeitsstrukturen als Erntearbeiter*innen auf den Feldern.

EURODAC / Datenbanken
Die EU betreibt seit 2003 die EURODAC-Datenbank, in der Fingerabdrücke sowie vermeintliches Geschlecht und vermutete Herkunft aller Asylbewerber*innen in Europa gespeichert werden. Die Erfassung, Speicherung und Vernetzung der biometrischen und personenbezogenen Daten soll den Zugriff auf Asylsuchende über den konkreten Ort und Zeitpunkt hinaus ermöglichen und so zur Durchsetzung von Abschiebungen und der Dublin-Verordnungen beitragen.
Die EU unterstützt zu diesem Zweck auch die afrikanischen Staaten finanziell und technologisch bei der Einführung biometrischer Pässe und entsprechender Datenbanken. War diese Datenbank von Beginn an ein zentrales Verwaltungsinstrument für das repressive Bevölkerungsmanagement der EU, so wird ihr sicherheitspolitischer Charakter offensichtlicher, seit sie 2013 auch für den Zugriff staatlicher Ermittlungsbehörden wie Polizei und Geheimdienste geöffnet wurde.
Aktuelle Gesetzesvorschläge des EU-Parlaments für ein europäisches Asylsystem wollen diese Praxis ausweiten. Die Datenbank soll um Passfotos ergänzt und das Mindestalter der Erfassung von vierzehn auf sechs Jahre gesenkt werden. Die bisher voneinander unabhängigen Datenbanken EURODAC, das Visa-Informations-System aller EU-Staaten (VIS) und die europaweite Polizeidatenbank SIS zur Strafverfolgung (Schengener Informationssystem sollen durch eine gemeinsame Suchmaske verknüpft werden. Die Integration von Strafverfolgung, Migrationsmanagement und polizeilicher Prävention ist im Kontext der generellen Tendenz stetiger militärischer und erkennungsdienstlicher Aufrüstung der Sicherheitsapparate in den EU-Staaten zu sehen und dient der Kriminalisierung von Migration.

LAGERSYSTEME

Die Institution der Lager als Technik der Ausgrenzung und gleichzeitigen Einsperrung bestimmter Menschengruppen bildet eine strukturell wichtige Komponente im aktuellen und historischen Prozess mobiler Grenzregime und nationalstaatlicher Organisation. Das Lager stülpt die Grenze um und stellt Exterritorialität im Inneren her. Dieser einschließende Ausschluss kann auch nach außerhalb des Raums eines nationalstaatlichen Territoriums verlegt werden.
Lager sind Instrumente eines identitätspolitischen und ökonomischen Verwaltungsapparates. Die Zusammensetzung der Lagerbewohner*innen ist historisch das Resultat juristischer, polizeilicher und militärischer Praktiken und identitärer, politischer, aber auch wissenschaftlicher Diskurse. Die Isolation dieser dann definierten Teile der Bevölkerung in Lagern dient dem Narrativ einer von asozialen Störungen bereinigten, gesunden, produktiven und vor allem gesetzestreuen Volksgemeinschaft.
Die historische Kontinuität von Lagern in Almanya, ihrer Infrastruktur und ihrer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aufgaben ist an den Lagern für Aufständische gegen das Kolonialregime ab 1904, für Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter im Ersten und Zweiten Weltkrieg, für Gastarbeiter*innen in der BRD nach 1945 und schließlich für heutige Asylbewerber*innen ablesbar. Die Konzentrations- und Vernichtungslager der Nazis hingegen waren nicht auf die Unterwerfung und Kontrolle bestimmter Teile der Bevölkerung ausgerichtet, sondern auf deren Auslöschung.

Arbeitshäuser
In Lagereinrichtungen setzt sich ein Prinzip fort, das sich bis in die Arbeitshäuser des 17. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. Die durch Armut hervorgerufenen Aktivitäten und Phänomene, wie Bettelei, Vagabundieren, Obdachlosigkeit, wurden als gesetzeswidrig eingeordnet und unter Strafe gestellt. Die kriminalisierten Armen wurden in Arbeitshäusern untergebracht und als Strafe für den Gesetzesbruch zur Arbeit verpflichtet. So wurden die Lebensweisen außerhalb der Produktionsverhältnisse diszipliniert und Arbeitskraft nutzbar gemacht. Die fortlaufende Bestrafung der durch die geschaffenen Verhältnisse hervorgebrachten Verhaltensweisen ist mit der Geschichte der Lager als Orte der Disziplinierung verknüpft.

Asyllager
Das Leben in den heutigen Massenunterkünften für Asylsuchende, ohne Privatsphäre, ohne eine Möglichkeit zu kochen, Sprachkurse zu besuchen oder zu arbeiten, produziert seelische Krankheiten und soziale Konflikte. Als Lagerpolizei agieren private Sicherheitsdienste. Sie beschränken die Autonomie der Bewohner*innen in ihren alltäglichen Handlungen innerhalb der strengen Hausordnungen, die je nach Einrichtung An- und Abmeldeprozeduren innerhalb bestimmter Fristen beim Verlassen der umzäunten Lager vorschreiben oder den Besitz von Küchenmessern und anderen Kochutensilien verbieten und kontrollieren. Gewalttätige Übergriffe auf Asylbewerber*innen durch Mitarbeiter*innen der Sicherheitsdienste sind zahlreich dokumentiert und an der Tagesordnung.
In den Lagern formen sich immer wieder solidarische Gemeinschaften, die sich gegen die Verwehrung von Grundrechten, für bessere Lebensbedingungen und gegen Diskriminierung durch Sicherheitsorgane engagieren. So haben Lagerbewohner*innen Demonstrationen und Streiks organisiert oder Abschiebungen aus den Lagern heraus mit gemeinsamen Trillerpfeiffenkonzerten verhindert (siehe Abschiebung).
Gegen diese Form der Selbstorganisation wirkt in Bayern, wo seit 2018 sogenannte AnkER-Zentren eingeführt wurden, die generelle gesetzliche Einstufung aller Lager als ›gefährliche Orte‹. Diese hebelt unter anderem das im Grundgesetz verankerte Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung aus. Die Polizei darf dort ohne Anlass jederzeit durchsuchen. Seit März 2018 fanden mehrere nächtliche Großrazzien der Polizei mit mehreren bewaffneten Hundertschaften und unter Einsatz von Reizgas, Schlagstöcken und Fesselungen, teilweise mit Beteiligung von schwerbewaffneten Sondereinsatzkommandos in den Lagern statt.
Die Beteiligten werden während der Großrazzien von den Sicherheitskräften und der Lagerverwaltung identifiziert und wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt, Landfriedensbruch oder Beleidigung festgenommen und Richtern vorgeführt. Die Strafen werden generalpräventiv begründet. In den meisten Fällen traf diese Vorgehensweise afrikanische Bewohner*innen, die mit einer schlechten Bleibeperspektive häufig die größte Form der Entrechtung erfahren.
Die offen zur Schau gestellte Polizeigewalt und die juristische Verfolgung einzelner Bewohner*innen soll zur Entsolidarisierung unter den Geflüchteten führen, die ihr Grundrecht auf Meinungsäußerung wahrnehmen. Vor allem, wenn sie als Sprecher*innen kollektiver Selbstorganisation aufgetreten oder dem Sicherheitspersonal anderweitig als unliebsam aufgefallen sind, werden sie als „Rädelsführer“ gebrandmarkt und daraufhin für mehrere Monate in Untersuchungshaft genommen oder in andere Lager versetzt.
In der Landeserstaufnahmeeinrichtung (LEA) in Ellwangen kam es in der Nacht vom 3. Mai 2018 – nach einer wenige Tage zuvor nicht geglückten Abschiebung nach Italien – zu einem spektakulären Großeinsatz der Polizei mit über 500 beteiligten Einsatzkräften. Im Jahr 2017 waren in Ellwangen nur 20 von 130 versuchten Abschiebungen erfolgreich, meist war die Person nicht auffindbar. In diesem Fall war ein Abschiebeversuch abgebrochen worden, weil sich eine größere Menschenmenge protestierend im Hof versammelt hatte. Daraufhin wurde in der besagten Nacht der Großeinsatz durchgeführt, bei dem Türen eingetreten, Bewohner*innen geschlagen und fixiert wurden und mehrere von ihnen festgenommen wurden.
Der Einsatz wurde in den Medien mit einem unhaltbaren Ausnahmezustand in den Lagern und der Gewaltbereitschaft der afrikanischen Bewohnerschaft begründet, die anders nicht mehr zu kontrollieren sei. Inmitten der rassistisch aufgeladenen Hetze gegen Flüchtlinge seitens der Medien und Politik verkündete Innenminister Seehofer die Notwendigkeit sogenannter AnkER-Zentren, um damit die Zustände in den Griff zu bekommen. Inzwischen wird die Rechtmäßigkeit des Polizeieinsatzes, der angeblich lediglich zur Personenfeststellung durchgeführt wurde, vom Flüchtlingsrat Baden-Württemberg, von Aktion Bleiberecht, Justizwatch sowie Refugee-Aktivist*innen aus Stuttgart und Augsburg angezweifelt.

AnkER-Zentren
AnkER-Zentren wurden als Teil des Koalitionsvertrags zwischen CDU/CSU und SPD im März 2018 beschlossen und sind aktuell das am weitesten fortgeschrittene Instrument der Repression, Isolierung und Überwachung von Migrant*innen innerhalb Almanyas. ›AnkER‹ steht für ›Ankunft, Entscheidung und Rückführung‹. Ziel der AnkER-Zentren, die im August 2018 in Bayern als Pilotprojekte eingeführt wurden, ist es, Asylverfahren und Abschiebung einer großen Zahl von Menschen zu beschleunigen. Die AnkER-Zentren befinden sich meist in peripher gelegenen ehemaligen Militärkasernen, die schon zuvor unter dem Namen ›Transitlager‹ bzw. ›besondere Aufnahmeeinrichtung‹ zur Unterbringung von Asylbwerber*innen genutzt wurden.
Bisher gibt es AnkER-Zentren in Bamberg (ehemalige Warner Barracks), Manching (u. a. ehemalige Max-Immelmann-Kaserne), Donauwörth (ehemalige Alfred-Delp-Kaserne), Schweinfurt (ehemalige Ledward Barracks, Conn Barracks), Deggendorf, Regensburg und Zirndorf.
Die Struktur der Massenunterbringung schränkt die Autonomie der Bewohner*innen rechtlich, sozial und materiell weiter massiv ein und isoliert sie von den Einwohner*innen der angrenzenden Städte. Ohne Zugang zu unabhängigem Rechtsbeistand und solidarischen Netzwerken sind sie den Programmen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF), wie zum Beispiel der Rückkehrberatung, ohne Alternative ausgeliefert. Sie werden aufgrund ihrer prognostizierten schlechten Bleibeperspektive dazu gedrängt, ›freiwillig‹ zurückzukehren, das heißt sich selbst abzuschieben, um weiteren Repressalien zu entgehen. Verschiedene soziale Organisationen sowie die Gewerkschaft der Polizei lehnen das Pilotprojekt ab und verweisen auf die durch die Lagerbedingungen vorprogrammierten sozialen Konflikte.

Hotspots
Eingeführt durch die European Agenda on Migration 2015 und bestätigt durch den Europäischen Rat werden unter dem Namen ›Hotspot Approach‹ Migrant*innen direkt an den EU-Außengrenzen in Italien und Griechenland in Auffanglagern, sogenannten Hotspots festgehalten. Dort werden sie umgehend registriert, wenn möglich identifiziert und ihre Fingerabdrücke genommen. Das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) arbeitet dafür vor Ort mit Frontex und Europol zusammen. Die Neuangekommenen erhalten in den oft dramatisch überfüllten Hotspots keinen rechtlichen Beistand oder unabhängige Beratung in Asyl- und Migrationsfragen und befinden sich in einigen Hotspots unter Quasiarrest oder in regelrechter Gefangenschaft. In vielen Fällen werden die humanitären Standards nicht eingehalten. Die medizinische Versorgung ist nicht auf das körperliche und seelische Wohlergehen der Migrant*innen ausgerichtet, sondern dient primär den sicherheitstechnischen Interessen des Lagersystems. Institutionelle und freiwillige humanitäre Helfer werden kriminalisiert, wenn sie die Durchsetzung des Grenzregimes nicht unterstützen und nicht mit Sicherheitskräften kooperieren.

Exterritoriale Lager
Für die aktuellen mobilen Grenzregime werden Lager für Migrant*innen auch außerhalb des Territoriums der Europäischen Union etabliert. Ein mehrstufiges Lagersystem versucht, aktuelle Migrationsbewegungen vor den Grenzen Europas zu stoppen. Zum Beispiel dienen bestehende Lagerstrukturen in der Türkei (EU-Türkei-Abkommen 2016) und Gefängnisse in Libyen diesem Zweck. In mehreren afrikanischen Staaten sind Sammellager errichtet worden, in denen in Zukunft auch der Prozess des Asylverfahrens stattfinden und damit nach außerhalb der EU vorverlagert werden soll. An den Grenzen selbst lassen sich immer wieder rechtswidrige Push-Backs feststellen, bei denen Militär oder Polizei Migrant*innen direkt an der Grenze zurückdrängen.In Libyen allein sitzen Tausende von Migrant*innen aus den afrikanischen Staaten in auswegloser Lage für unbestimmte Zeit in Lagern und Gefängnissen fest. Die Überfahrt auf einer der Mittelmeerrouten ist Ziel und zugleich auch einziger Ausweg aus einem Bürgerkriegsland, in dem ihnen ein Leben in sklavenähnlichem Zustand droht.

MITTELMEER

Die Fahrt über das Mittelmeer nach Europa ist ein Unterfangen mit hohem Risiko und wird oft mit untauglichen und überfüllten Kähnen und Schlauchbooten angetreten. Die Zahl der Toten (seit dem Jahr 2000) wird auf 35.000 geschätzt. Im Jahr 2018 riskierten nach Angaben der UNHCR 138.882 Menschen die gefährliche Überfahrt, 2.297 von ihnen starben dabei.
Die Migrationsrouten über die Türkei, über Libyen, Marokko und Algerien treffen im offenen Mittelmeer durch die mobilen Grenzregime auf eine doppelte Politik des Entzugs. Zum einen wird die zur Migration nötige materielle Infrastruktur erodiert, weshalb die Überfahrt ein höheres Risiko birgt, zum anderen werden die dadurch immer häufiger in Seenot geratenen Schiffe auf hoher See bewusst im Stich gelassen.
Das Ziel der europäischen Politik ist die Schließung der Mittelmeerroute für Flüchtende und damit die Verunmöglichung, unter den UN-Flüchtlingskonvention in der Europäischen Union Asyl zu beantragen. Die Schiffe der Frontex-Mission Triton und der EU NAVFOR MED Operation Sophia bleiben meist in der Nähe von Malta und Sizilien im Einsatz, weit weg von der Zone, in der Schlauchboote mit Geflüchteten treiben. In Reaktion auf die unterlassene Hilfestellung der staatlichen Organe und nach dem Vorbild des ersten privat organisierten Rettungsschiffs, der Cap Anamur (2004), bildete sich eine Reihe von privat organisierten Hilfsorganisationen, bestehend aus freiwilligen Helfer*innen. Zu ihnen gehören Jugend Rettet, Proactiva Open Arms, SOS Mediterranee, Mission Lifeline und Sea Watch. Sie versuchen im Sinne einer Safe Passage das Sterben im Mittelmeer zu verhindern. Sie vertreten die von Studien belegte Argumentation ›Mehr Retter heißt weniger Tote, aber nicht vermehrte Flucht‹.

Frontex
Die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache kurz Frontexwurde 2004 zum Schutz der europäischen Außengrenzen geschaffen. Sie hat ihren Sitz in Warschau und verfügte 2017 über ein jährliches Budget von 281 Millionen Euro. Ihr Mandat wurde seit Gründung ständig erweitert und umfasst mehrere Missionen, Operationen außerhalb der EU-Grenzen, die Zusammenarbeit mit Drittstaaten, zum Beispiel der libyschen Küstenwache und dort agierender Milizen, die Erstellung von Analysen und Berichten oder auch die Rückführung von Migrant*innen.
Die Operation Triton begann 2014 und löste die 2013 von Italien initiierte Rettungsmission Mare Nostrum ab, die 80.000 Leben rettete. Während die Ausrichtung von Mare Nostrum auf Seenotrettung (Search and Rescue, kurz SAR) zielte, ging es bei Triton vor allem um Abwehr. Nach Aussage des Frontex-Direktors Fabrice Leggeri ›korrespondierten (Rettungsmissionen) nicht mit Tritons Einsatzplan und Mandat‹. Stattdessen geht es um Abschreckung, die Zerstörung von Booten und die Rückführung von ›irregulären‹ Migrant*innen. Da Frontex seit 2014 nach EU-Recht auf hoher See selbst keine Push-Back-Operationen gegen Flüchtlingsboote mehr durchführen darf – und das obwohl der völkerrechtliche Grundsatz der Nichtzurückweisung auch vorher schon durch die Genfer Flüchtlingskonvention bestand – wird diese Aufgabe zunehmend an libysche Einheiten übertragen.

Seenotrettung
Die Seenotrettung ist gemäß internationalem Seerecht in den internationalen Übereinkommen zur Seenotrettung und in den SOLAS-Abkommen (Internationales Übereinkommen von 1974 zum Schutz des menschlichen Lebens auf See) rechtlich festgehalten. Demnach ist die Rettung hilfsbedürftiger Menschen auf See für alle Schiffe und Besatzungen auf hoher See verpflichtend; Küstenstaaten müssen geeignete Mittel für die Rettung Schiffsbrüchiger bereitstellen. Für die Koordination von Rettungseinsätzen im zentralen Mittelmeer ist die Seenotrettungsstelle Maritime Rescue Coordination Centre (MRCC) in Rom zuständig. Sie schickt Schiffe zu den Einsatzstellen und weist ihnen die anzulaufenden Häfen zu. Im August 2017 wurde das Schiff von Jugend Rettet, die Iuventa, beschlagnahmt und liegt seitdem im Zollbereich des Hafens von Trapani. Anderen Schiffen wurden die Flaggen entzogen. Die jahrhundertealte und im internationalen Recht verankerte Seenotrettung wird seitdem durch verschiedene Maßnahmen ausgehöhlt und sogar kriminalisiert. Im Sommer 2018 schloss Italien seine Häfen für Hilfsorganisationen, die Geflüchtete in Seenot retten. Andere Länder folgten. Obwohl laut europäischer Rechtsprechung gerettete Schiffsbrüchige nur in sichere Häfen, in denen sie keine Folter oder Verfolgung erwartet, gebracht werden dürfen, sollen die Geretteten von nun an an die libysche Küstenwache übergeben werden. Im Dezember 2018 irrte die Sea Watch 3 mit 49 geretteten Personen an Bord insgesamt neunzehn Tage lang über das Mittelmeer, bis schließlich Malta eine Erlaubnis zum Anlaufen erteilte. Die Freiwilligen anderer Organisationen, wie Jugend Rettet, werden sogar vor Gericht gestellt. Gleichzeitig bilden sich Initiativen für sichere Häfen, die viele Städte unterstützen. Die Bürgermeister von Palermo und Neapel stellen sich gegen die Schließung der Häfen.

EXTERNALISIERUNG / EXTERRITORIALE GRENZEN

Die gegenwärtigen Grenzregime der EU erstrecken sich in gestaffelten Zonen über den gesamten europäischen Raum. In der Bestrebung, ›irreguläre‹ Migration möglichst früh umfassend zu regulieren, werden mobile Grenzregime und Lagersysteme auch außerhalb des Gebiets der EU etabliert und ausgebaut.
Flug- und Fährunternehmen müssen durch die EU-Richtlinie 2001/51/EG die Kosten für Rücktransport und Verwaltung von Einreisenden in die EU ohne Visum übernehmen, sollte ihnen Asyl verwehrt werden. Der Grundsatz der Genfer Flüchtlingskonvention, dass Asylsuchende ohne Visum nicht abgewiesen werden dürfen, wird auf diese Weise ausgehebelt, und Transportunternehmen werden zwangsweise zu Komplizen des Grenzschutzes gemacht. Grenzschutzaufgaben werden externalisiert und legale und sichere Einreisemöglichkeiten in die EU blockiert.
Gleichzeitig zwingt die EU afrikanische Staaten zunehmend dazu, das europäische Verständnis von ›irregulärer‹ Migration zu übernehmen und entsprechende Grenzregime zu etablieren. Damit konterkariert die Europäische Union die Bemühungen der African Union, Grenzkontrollen in Afrika abzuschaffen. Auf einem Kontinent, der vorkolonial keine Grenzen kannte, in dem uneingeschränkte Mobilität von Migration und Handel zur Normalität gehörte, werden innerafrikanische Handels- und Reiserouten geschlossen, die für das Überleben vieler Menschen wichtig sind.
Die EU-Programme drängen die afrikanischen Staaten zur Einführung biometrischer Passsysteme, etablieren Checkpoints und Lagersysteme und manifestieren sich in militärischen Operationen in Niger, Mali und Libyen. Zur Durchführung werden Akteure wie die International Organisation of Migration (IOM), die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), Frontex und die Deutsche Bundeswehr sowie das italienische Militär und anderen Organisationen beauftragt. Für die Umsetzung werden immer größere Budgets zur Verfügung gestellt. Obwohl viele dieser Maßnahmen als Entwicklungshilfe oder humanitäre Missionen deklariert sind, dienen sie vornehmlich und oft allein der Regulation von Migration. Zudem werden Zahlungen für Hilfsprogramme an Gegenleistungen beim Grenzschutz und an Rücknahmeverpflichtungen gekoppelt.
Durch diese Maßnahmen werden exterritoriale Grenzen der EU etabliert und europäischer Grenzschutz de facto bis in die Sahara vorverlegt. Schätzungen der UN zufolge fordert die Migrationsroute durch die Sahara seit der Einführung der Checkpoints doppelt so viele Todesopfer wie die Überquerung des Mittelmeers. Demokratische Strukturen vor Ort, die Interessen der Bevölkerung und zivilgesellschaftliche Akteure werden übergangen, um die europäischen Interessen durchzusetzen.
Zivilgesellschaftliche und soziale Basisbewegungen aus Afrika und Europa setzen sich gegen die Etablierung von Grenzregimen in Afrika ein. Der Kampf um Bewegungsfreiheit und um gerechte und selbstbestimmte Entwicklung, also darum, unter selbstbestimmten und würdigen Bedingungen leben zu können, ist dabei von zentraler Bedeutung. Das transnational organisierte Netzwerk Afrique-Europe-Interact aus Mali, Togo, Almanya, Österreich und den Niederlanden hat dafür zum Beispiel 2011 die dreiwöchige ›Karawane für Bewegungsfreiheit und gerechte Entwicklung‹ gemeinsam mit der Assoziation der Abgeschobenen Malis initiiert. Dabei wurden entlang der Strecke von Mali nach Senegal auf einem halben Dutzend Stopps mit der lokalen Bevölkerung Versammlungen organisiert. Die Initiative kämpft für die Durchsetzung der zivilen, politischen und sozialen Rechte von Migrant*innen. 2017 richtete Afrique-Europe-Interact das Alarmphone Sahara ein, eine Notrufnummer nach dem Modell des seit 2014 bestehenden Watch the Med Alarmphone.